Brontë-Schwestern: Leben und literarisches Werk von Anne, Charlotte und Emily Brontë

Brontë-Schwestern: Leben und literarisches Werk von Anne, Charlotte und Emily Brontë
Brontë-Schwestern: Leben und literarisches Werk von Anne, Charlotte und Emily Brontë
 
Im westlichen Yorkshire am Rand eines Hochmoors liegt das Dorf Haworth, zu dem alljährlich eine Viertelmillion Touristen pilgert, um dort auf den Spuren von drei Frauen zu wandeln, die zu einer Legende der englischen Literaturgeschichte geworden sind. Es sind die Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë, von denen man meist wie von einer Einheit spricht, obgleich die drei kaum verschiedener hätten sein können. Charlotte, die Älteste, wird von Zeitgenossen als eine unscheinbare, geradezu verkümmerte Person beschrieben. Sie maß nur vier Fuß, zehn Zoll (1,47 Meter). Elizabeth Gaskell, ihre spätere Biografin, spricht von ihren schönen, kastanienbraunen Augen, aus denen zuweilen ein Licht schien, »als ob eine geistige Lampe aufflammte, die hinter diesen Augen glühte. Ihre übrigen Gesichtszüge waren ziemlich hässlich. ..«. Als schön wird sonst nur noch ihr Haar beschrieben. Sie selbst spielt auf ihre Reizlosigkeit mehrfach in einem Ton an, der erkennen lässt, dass sie all ihren späteren Ruhm hingegeben hätte, wenn sie dafür eine schöne Frau hätte sein dürfen. Eine andere Eigenschaft, unter der sie ihr Leben lang litt, war ihre Schüchternheit. Sie schnürte sich in die engsten Korsetts und kleidete sich in das unauffälligste Grau oder Schwarz, als wollte sie sich unsichtbar machen. Und doch hat manche Berühmtheit, zum Beispiel der Romancier William Makepeace Thackeray, ihre Krallen zu spüren bekommen, wenn sie aus ihrer Reserve herausfuhr und sich auch durch große Namen nicht einschüchtern ließ.
 
Von ganz anderer Art war ihre Schwester Emily. Hoch gewachsen und schlank, von schroffem, fast männlichem Wesen, glich sie einer Diana, wenn sie einsam das Moor durchstreifte, nach Männerart ihrem Hund pfiff und ihn mit bloßen Fäusten verprügelte, wenn er nicht gehorchte. Als sie einmal von einem tollwutverdächtigen Dorfhund gebissen wurde, zögerte sie nicht, die Wunde mit einem glühenden Feuerhaken auszubrennen. Zeitgenossen erwähnen auch bei ihr das schöne Haar und ihre schönen, zwischen dunkelblau und dunkelgrau changierenden Augen, die jedoch kaum zur Geltung kamen, da sie ihr Gegenüber selten anblickte. Außerdem wird erwähnt, dass es ihrem Teint trotz des häufigen Aufenthalts in der freien Natur an Frische fehlte. Während Charlotte um menschliche Zuwendung bemüht war und sich nach Liebe sehnte, war Emily am liebsten für sich allein. Charlotte beschreibt sie als eine Frau, die selbst ihren Schwestern ein Rätsel blieb. In der Fremde litt sie an Heimweh, doch zeigte sie Fremden gegenüber keinerlei mädchenhafte Schüchternheit, sondern abweisende Härte und Verschlossenheit. Anders als Charlotte schien sie weder über sich selber noch über ihre Lebensaussichten nachzudenken. Mit stoischem Gleichmut nahm sie ihr Schicksal hin und glich einem Medium, durch das Traumgesichte hindurchgingen, ohne dass sie selber daran beteiligt war. Charlotte schrieb später über sie, dass Freiheit ihr innerstes Wesen ausgemacht habe. Sie hatte nur wenige Freunde, schien weder an Liebe noch an Ruhm interessiert zu sein und verweigerte noch im Sterben ärztliche Hilfe, als wollte sie einem ihr vorbestimmten Schicksal seinen Lauf lassen.
 
Anne, die jüngste und literarisch bis heute am wenigsten geschätzte der drei Schwestern, stand schon zu Lebzeiten im Schatten der beiden älteren, obgleich sie die hübscheste war. Ellen Nussey, Charlottes engste Freundin, schreibt: »Anne, die liebe sanfte Anne, war ganz anders.. .. Ihr sehr hübsches, dunkelblondes Haar fiel in anmutigen Locken über ihren Nacken. Sie hatte wunderschöne, veilchenblaue Augen und einen klaren, fast durchsichtigen Teint.« Über ihr inneres Wesen ist noch bezeugt, dass sie von den dreien die entschiedensten religiösen und moralischen Grundsätze hatte.
 
Vollständig ist das Bild der drei Frauen aber erst, wenn man auch ihren Bruder Branwell hinzunimmt, den die Schwestern lange Zeit als das Genie der Familie verehrten. Doch gerade dieser Mann sollte sich neben seinen charakterstarken Schwestern als der Schwächling und Versager erweisen. Branwell war für einen Mann sehr klein und trug auf dem Kopf einen wirren Schopf roter Haare. Das Letztere war ein Erbe seines irischen Vaters, des Methodistenpfarrers Patrick Brontë, der eigentlich Brunty hieß und 1777 als ältestes von zehn Kindern in Drumballoney in Nordirland geboren wurde. Nach seiner Eheschließung mit der aus Cornwall stammenden Maria Branwell wurden in rascher Folge sechs Kinder geboren: Maria, Elizabeth, Charlotte (21. April 1816), Patrick Branwell (26. Juni 1817), Emily Jane (30. Juli 1818) und Anne (17. Januar 1820). Kurz nach der Geburt des letzten Kindes erkrankte seine Frau schwer und starb noch im selben Jahr, worauf ihre Schwester Elizabeth Branwell aus Cornwall gerufen wurde, um fürs Erste die sechs Kinder zu versorgen. Tante Elizabeth blieb bis zu ihrem Tode 1842 im Pfarrhaus und hinterließ ihren drei Nichten und einer vierten in Cornwall ihr kleines Vermögen von 1 500 Pfund. In den zwanzig Jahren ihrer Haushaltsführung wuchsen unter ihren Fittichen die ungewöhnlichsten Geschwister der englischen Literatur heran, ohne dass sie selber etwas davon bemerkte.
 
 Zwischen Traum und Wirklichkeit
 
1824 entschloss sich Patrick Brontë, seinen ältesten Kindern eine solide Schulbildung angedeihen zu lassen. Er schickte zuerst Maria und Elizabeth, wenig später auch Charlotte und Emily nach Cowan Bridge, einer erzieherischen Treuhandstiftung für Töchter von Klerikern. Diese für damalige Verhältnisse fortschrittlich konzipierte, doch schlecht geführte Schule hat sich in Charlottes Gedächtnis als ein Ort der Qual eingegraben. Als beklemmendes Pensionat Lowood wird die Anstalt später in ihrem Roman Jane Eyre wiederkehren. Für die Brontë-Töchter wurde aus der Qual eine Katastrophe. Schon während des ersten Schuljahres erkrankten Maria und Elizabeth schwer und starben kurz darauf. Obwohl nicht sicher ist, ob die damals als Auszehrung diagnostizierte Krankheit in jedem Falle Tuberkulose war, spricht alles dafür, dass schon die ersten beiden Kinder dieser Geißel der Familie Brontë zum Opfer fielen.
 
Für Charlotte bedeutete der Verlust der beiden älteren Schwestern einen emotionalen Schock und zugleich einen tiefen Einschnitt in ihr Leben, da nun ihr selber die Rolle der großen Schwester zufiel, die den jüngeren Geschwistern die Mutter ersetzen musste. Nach der Rückkehr ins Haus des Vaters schlossen sich die vier übrig gebliebenen Kinder immer fester zusammen. Der Vater versuchte ihre Erziehung ein wenig zu steuern, überließ sie aber bald ganz ihrem Lesehunger und ihrer Fantasie. Als er im Juni 1826 seinen Kindern eine Schachtel mit zwölf holzgeschnitzten Soldaten mitbrachte, war dies das Samenkorn, aus dem zwei Reiche hervorgingen, die noch heute in der Literaturgeschichte weiterleben. Die Kinder stürzten sich sogleich auf die Figuren, teilten sie untereinander auf und gaben ihnen Namen. Aus den Namen wurden Geschichten und aus den Geschichten eine eigene Welt, in der sich die Kinder bewegten wie in einer zweiten Wirklichkeit. Anfangs nannten sie die Hauptstadt ihres an der Westküste Afrikas angesiedelten Reiches Glasstown oder auf Griechisch Verdopolis, und sie malten sich ihre Orte nach dem Vorbild der apokalyptischen Visionen des Malers John Martin aus, dessen Grafiken damals in Mode gekommen waren. 1834 gründeten die beiden Älteren dann das Reich Angria, über das Charlotte viele Geschichten schrieb und für das Branwell eine eigene Zeitschrift verfasste. Da in Angria die beiden Älteren den Ton angaben, schlossen sich die Jüngeren ihrerseits stärker zusammen, und Emily gründete ihr eigenes Reich, das den Namen Gondal erhielt. Nur die realistischere Anne zog sich aus der Spielwelt zurück, in der sich grausame Realpolitik und übernatürliche Magie bunt vermischten und die es ihren Erfindern gestattete, Machtfantasien auszuleben und imaginierte Leiden mit Wollust zu genießen.
 
 Gouvernantenschicksale
 
Für Frauen der Mittelschicht, die auf dem Heiratsmarkt weder eine Mitgift noch weibliche Reize anzubieten hatten, blieb im viktorianischen England nur eine einzige Möglichkeit, sich standesgemäß ihr Brot zu verdienen: Sie mussten Gouvernanten werden. Ein solches Los sahen auch die Brontë-Schwestern auf sich zukommen. Dazu bedurften sie einer ausreichenden eigenen Bildung. Nachdem die Kinder fünf Jahre lang sich selbst überlassen waren, musste zumindest für die vierzehnjährige Charlotte an einen erneuten Schulbesuch gedacht werden. Mit der Wahl des Mädchenpensionats Roe Head taten die Brontës diesmal einen entschieden glücklicheren Griff. Miss Wooler, die Leiterin der Schule, war allseits beliebt, und Charlotte schloss sich eng an sie an. Noch zwei weitere lebenslange Freundinnen fand sie hier. Die eine war Mary Taylor, eine aufgeweckte, selbstbewusste Fabrikantentochter, die zweite Ellen Nussey; sie wurde Charlottes engste Freundin. Auch wenn die orthodox erzogene Ellen oft Mühe hatte, den kühneren Gedanken ihrer Freundin zu folgen, hielt sie ihr unverbrüchliche Treue und bewahrte 500 Briefe von ihr auf, die später zur Hauptquelle biografischer Information über die berühmte Schriftstellerin wurden.
 
Als Charlotte 1832 als beste Schülerin mit einer Silbermedaille von Roe Head verabschiedet wurde, lagen achtzehn glückliche Monate hinter ihr. Drei Jahre später kehrte sie als Lehrerin an die gleiche Schule zurück, in Begleitung von Emily, die jetzt als Schülerin an der Reihe war. Doch Emily hielt es nur wenige Monate aus, dann floh sie heimwehkrank zurück nach Haworth. Ihren Platz übernahm Anne, die zusammen mit Charlotte bis 1838 in Roe Head blieb. Der zweite Schulaufenthalt war für Charlotte bei weitem nicht so glücklich wie der erste. Nicht nur, dass sie ihre beiden Freundinnen vermisste, sie musste sich nun auch mit störrischen Schülerinnen herumquälen, statt den eigenen Bildungshunger zu befriedigen. So war der Trennungsschmerz nicht groß, als die beiden Schwestern im Sommer 1838 die Schule verließen. Doch was dann folgte, war für sie noch weniger erfreulich. Nachdem inzwischen auch Emily für kurze Zeit als Lehrerin die Mühsal und Ausbeutung dieser Tätigkeit erfahren hatte, versuchten Charlotte und Anne 1839 ihr Glück als Gouvernanten in Privathaushalten und begaben sich damit auf einen Leidensweg, den Anne in Agnes Grey eindringlich beschrieben hat und der auch in Charlottes Jane Eyre breiten Raum einnimmt.
 
Noch aber hegten die Geschwister die Hoffnung, dem Gouvernantenschicksal durch eine literarische Karriere zu entgehen. Schon in den Weihnachtsferien 1836, als alle vier in Haworth versammelt waren, unternahmen sie den ersten Vorstoß in dieser Richtung. Branwell schrieb an den berühmtesten Dichter der Zeit, an William Wordsworth, und Charlotte wandte sich an den Hofdichter Robert Southey. Nur von Letzterem kam eine Antwort. Southey sagte ausdrücklich, dass er ihrem dichterischen Ausdrucksverlangen keinen Dämpfer aufsetzen wolle, meinte aber doch, dass Literatur als Profession »kein Geschäft für Frauen sei, und auch nicht sein sollte«.
 
 Aufbruch in die Welt: Brüssel
 
Inzwischen stand für die drei Schwestern fest, dass sie ihr Leben nicht für immer als Gouvernanten verbringen wollten. Charlotte schätzte ihre Heiratschancen skeptisch ein, Emily hatte überhaupt noch kein Interesse an Männern gezeigt, und Annes erster Schwarm war ein Filou. So fassten sie den Plan, wenn sie schon Kinder unterrichten sollten, dies dann wenigstens in einer eigenen Schule zu tun. Um eine solche so kompetent betreiben zu können, dass sie mit zahlungskräftiger Kundschaft rechnen durften, mussten sie sich aber selber erst einmal die nötige Bildung aneignen. Was ihnen am meisten abging, waren Fremdsprachenkenntnisse. Deshalb schlug Charlotte den Besuch einer Schule in Brüssel vor. Emily, die weder an dem Schulprojekt noch an einem Auslandsaufenthalt interessiert war, willigte dennoch ein, die große Schwester zu begleiten.
 
So brachen die beiden am 15. Februar 1842 nach Brüssel auf, um dort das Pensionat Heger zu besuchen. Charlotte, die alles, was sie tat, mit puritanischem Pflichtbewusstsein erledigte, machte im Sprachunterricht rasch Fortschritte. Emily, deren Vorbildung geringer war, tat sich entschieden schwerer, machte dies jedoch durch harte Arbeit wett. Die guten Erfolge der beiden Engländerinnen zogen die Aufmerksamkeit des Ehemanns von Frau Heger, der Betreiberin der Schule, auf sich. Constantin Heger war Professor für Rhetorik und Mathematik an einem benachbarten Gymnasium und unterrichtete nur gelegentlich an der Schule seiner Frau. Als er Charlottes Bildungshunger spürte, tat er sein Bestes, um ihr voranzuhelfen. Sicher fühlte er sich durch die Verehrung der jungen Frau geschmeichelt, doch er hielt sie dezent auf Distanz. Allerdings bot er ihr, schon im Interesse der Schule seiner Frau, für das folgende Jahr eine Stelle als Lehrerin an.
 
Während Emily der Heimkehr entgegenfieberte, nahm Charlotte das Angebot an und kehrte Anfang 1843 nach Brüssel zurück. Dort litt sie zwar unter Einsamkeit und unter der Ereignislosigkeit ihres Lebens, doch die Nähe zu Monsieur Heger entschädigte sie für alle Entbehrungen. Ihre Schüchternheit machte es ihr schwer, Kontakte zu knüpfen. Außerdem fühlte sie sich als Protestantin fremd im katholischen Brüssel, wobei sie von einem gewissen Dünkel gegenüber der anderen Religion nicht frei war. Umso erstaunlicher mutet ihre Kühnheit an, als sie sich eines Tages zu dem Experiment überwindet und vor einem Priester die Beichte ablegt. Am 2. Januar 1844 ist Charlotte wieder in Haworth. Dem verehrten Professor hatte sie das Versprechen abgerungen, ihm alle sechs Monate schreiben zu dürfen. Doch die Antworten wurden mit der Zeit immer karger und blieben zuletzt ganz aus. Dass die Wunde in Charlotte nie ganz verheilte, spürt man in Villette, ihrem letzten Roman, in dem sie ihr Verhältnis zu Heger künstlerisch verarbeitet hat.
 
 Literarischer Durchbruch und jähes Ende
 
1845 waren alle vier Geschwister wieder in Haworth vereint. Charlotte und Emily hatten nach ihrer Rückkehr aus Brüssel keine neue Stellung angetreten, Anne hatte die ihre gerade gekündigt, und Branwell war nach einem Kurzurlaub von seinem Dienstherrn aufgefordert worden, nicht mehr zurückzukehren. Über den Grund ist viel gerätselt worden. War es zu Unschicklichkeiten zwischen ihm und seinem Zögling gekommen? War er in eine Affäre mit seiner Dienstherrin verwickelt oder hatte er sich Letzteres womöglich nur eingebildet? Was auch immer vorgefallen sein mag, für ihn begann jetzt der unaufhaltsame Weg in den Abgrund. Er litt an Wahnvorstellungen, versuchte diese in Alkohol zu ertränken oder mit Opium zu bekämpfen und geriet damit in immer tiefere seelische Zerrüttung.
 
In genau entgegengesetzter Richtung entwickelten sich die Lebensbahnen seiner Schwestern. Da ihnen die verstorbene Tante ein bescheidenes Vermögen hinterlassen hatte, war der Zwang zum Broterwerb von ihnen genommen, und sie konnten endlich das tun, wovon sie von Anfang an geträumt hatten, nämlich Bücher schreiben. Anne erwähnte schon am 31. Juli 1845 in ihrem Geburtstagsbrief an Emily ein Manuskript, bei dem es sich um den Entwurf zu Agnes Grey gehandelt haben muss. Auch die beiden anderen Schwestern müssen sich um diese Zeit mit Romanprojekten getragen haben. Doch versuchten sie erst einmal für einen gemeinsamen Lyrikband einen Verleger zu finden. Mit einer Selbstkostenbeteiligung von 35 Pfund brachten sie 1846 bei Aylott ' Jones den Band Poems by Currer, Ellis, and Acton Bell heraus. Da sie die weit verbreitete Geringschätzung gegenüber schreibenden Frauen kannten, wählten sie männliche Pseudonyme, wobei sie ihre Initialen beibehielten und sich für Vornamen entschieden, die gelegentlich auch als weibliche verwendet werden. In maßloser Überschätzung der Marktverhältnisse ließen sie tausend Exemplare drucken, von denen ganze zwei verkauft wurden.
 
Noch vor Erscheinen des Bandes bot Charlotte dem Verleger die drei in Arbeit befindlichen Romane — ihren eigenen, The Professor, Emilys Sturmhöhe und Annes Agnes Grey — an, allerdings ohne eigene finanzielle Beteiligung. Sie bekam eine Absage. Emily und Anne, die ihre beiden Romane zusammengebunden anboten, hatten mehr Glück. Der Verleger Newby wollte das Buch herausbringen, allerdings nur mit einem Zuschuss von 50 Pfund. Die beiden willigten ein. Inzwischen hatte Charlotte bereits ihr zweites Buch, den autobiografisch gefärbten Roman Jane Eyre fertig. Am 24. August 1847 schickte sie ihn an Smith ' Elder, wo man so beeindruckt war, dass das Buch sechs Wochen später herausgebracht wurde. Zu Weihnachten hielten dann auch die jüngeren Schwestern ihren ersten Roman gedruckt in Händen.
 
Für Charlotte war es bereits der Durchbruch zum Ruhm, während die beiden anderen sich mit gemischten Kritiken zufrieden geben mussten. Auch Anne hatte schon ihr zweites Buch (Wildfell Hall) fertig. Doch statt des erhofften Ruhms erwartete die beiden jüngeren Schwestern der Tod. Im September 1848 starb ihr Bruder, was bei seinem Lebenswandel niemanden verwunderte. Im Oktober holte sich jedoch die bis dahin ungewöhnlich robuste Emily eine schwere Erkältung, die in Schwindsucht überging und am 19. Dezember zu ihrem Tod führte. Zur gleichen Zeit stand es auch um Anne nicht gut. Ein letzter Versuch, ihren Zustand durch einen Aufenthalt an der See zu verbessern, war vergeblich, und am 28. Mai 1849 wurde auch sie von der Tuberkulose hinweggerafft. Damit war das Lebenswerk zweier viel versprechender Schriftstellerinnen im Alter von dreißig Jahren jäh abgeschlossen.
 
Anne hatte den großen Erfolg ihres zweiten Buches nur ahnen können, während Emily sich wohl kaum hätte träumen lassen, dass sie einmal als die genialste der drei Schwestern in die Literaturgeschichte eingehen würde. Sturmhöhe ist ein Buch von bezwingender Kraft. Wenn man bedenkt, dass die Autorin allem Anschein nach nie verliebt war und an Männern auch gar nicht interessiert schien, ist kaum zu begreifen, wie sie einen so tiefen Blick in die Leidenschaften der menschlichen Seele tun konnte. Neben diesem Buch, in dem ungezügelte Emotionen wie Naturgewalten aus den Menschen hervorbrechen, das zugleich aber so künstlich konstruiert ist wie Goethes Wahlverwandtschaften, nehmen sich die beiden Romane der jüngsten Schwester eher harmlos aus. Man sah sie lange in der Tradition des psychologischen Realismus mit moralischer Tendenz, wie sie im 18. Jahrhundert durch Samuel Richardson begründet worden war. Erst in neuerer Zeit wird zunehmend erkannt, dass die Heldin von Wildfell Hall eine in mancher Hinsicht modernere Frauengestalt ist als Jane Eyre und die Catherine aus Sturmhöhe, die beide noch stark der Romantik verpflichtet sind.
 
 Charlottes kurzes Glück
 
Als Anne zu Grabe getragen war, schrieb Charlotte: »Jetzt hat Papa nur noch mich, das schwächste, kümmerlichste und am wenigsten viel versprechende seiner sechs Kinder.« Bis dahin war sie immer die große Schwester gewesen, die sich für die anderen verantwortlich fühlte. Diese Last war von ihren Schultern genommen. Doch sie wurde jetzt nicht etwa die emanzipierte, zu literarischem Ruhm aufsteigende Dichterin, sondern fügte sich wie selbstverständlich in die Rolle der Tochter, die für ihren Vater zu sorgen hatte. Mit der neuen Last auf den Schultern, die sie mit niemandem teilen konnte, und geschwächt durch die Trauer um die Geschwister sowie eigene Krankheit brachte sie Shirley, ihren nächsten Roman, heraus.
 
Das Buch, eine sozialrealistische Darstellung des Aufstandes der Tuchweber in Yorkshire, hatte nicht die starke Wirkung, die Jane Eyre auf die Leser ausübte. Dennoch wurde es ein Erfolg. Charlottes Ruhm war schon so fest begründet, dass die etablierten Literaten ihrer Zeit sich bemühten, sie in ihre Zirkel zu ziehen. Charlotte genoss es, endlich anerkannt und als literarische Berühmtheit herumgereicht zu werden.
 
Im November 1851 begann sie ihr neues Buch Villette, das im Januar 1853 erschien. Darin griff sie wie in ihrem ersten und bis dahin unveröffentlichten Roman The Professor auf ihre Erfahrungen in Brüssel zurück. In dem Erstling hatte sie das Autobiografische noch durch die männliche Identität des Helden verschleiert. Jetzt kehrte sie zu der in Jane Eyre so erfolgreichen Form der Icherzählung zurück und schuf in Lucy Snowe eine Frauengestalt, die in vielem ein ungeschöntes Selbstporträt ist. Lucy ist ein armes, unscheinbares, von puritanischen Vorurteilen gehemmtes englisches Mädchen, das sich nach Villette begibt, um dort auf einer Schule ihre Bildung zu vervollständigen. Villette steht für Brüssel, und vieles, was Lucy erlebt, deckt sich mit der Biografie der Autorin bis hin zu der Beichte, die die Protestantin vor einem katholischen Priester ablegt. Lucy ist wie ihre Schöpferin eine im tiefsten Wesen humorlose, aber durch und durch redliche, um Pflichterfüllung bemühte Frau. Allerdings lässt die Autorin ihrem Ebenbild mehr Erfolg beschieden sein, als sie selber in Brüssel hatte. Der Literaturprofessor Paul Emmanuel, der für den verehrten Constantin Heger steht, betraut Lucy mit der Leitung seiner Schule, als er nach Westindien reisen muss. Das Abschiedsgespräch der beiden kommt einem Verlöbnis gleich. Lucy schließt ihre Erzählung in Erwartung ihres Geliebten, der nach dreijähriger Trennung auf der Heimreise ist. Doch der Leser ahnt, dass Paul Emmanuel nicht ankommen wird — ein Sturm hat auf dem Atlantik gewütet.
 
In solch bangendem Schwebezustand befand sich Charlotte selber, als sie das Buch schrieb. Zwar erwartete sie keinen Verlobten, doch sie musste für sich selber entscheiden, ob sie noch eine Ehe anstreben oder sich mit dem Los einer Schriftstellerin abfinden sollte, von der Jahr für Jahr ein neues Buch erwartet wurde. Schon 1850 fühlte sie sich vor diese Entscheidung gestellt, als der kleine rothaarige Schotte James Taylor aus dem Verlagshause Smith ' Elder ihr einen Antrag gemacht hatte. Ihrer Freundin Ellen schrieb sie: »Er ist zweitklassig, durch und durch zweitklassig. Wenn ich ihn heirate, würde mir das Herz vor Qual und Demütigung bluten. Ich kann nicht, kann einfach nicht zu ihm aufsehen.«
 
Inzwischen spürte sie aber immer stärker die Werbung eines anderen zweitklassigen Mannes. Es war der Hilfspfarrer ihres Vaters, Arthur Bell Nicholls, ein linkischer, grobschlächtiger Mann, dem sie schon früher signalisiert hatte, dass sie ihn nicht mochte. Doch Nicholls setzte seine Werbung hartnäckig fort und machte am 13. Dezember 1852 einen förmlichen Antrag. Charlotte berichtet: »Von Kopf bis Fuß zitternd, mit totenblassem Gesicht, seine Rede leise, heftig und doch stockend, ließ er mich zum ersten Mal spüren, was es einen Mann kostet, seine Liebe zu gestehen, an deren Erwiderung er zweifeln muss.« Charlotte musste den erregten Mann förmlich aus dem Zimmer schieben. Alles Weitere verlief, wie zu erwarten war. Nicholls war zwar noch immer ein Mann, zu dem sie nicht aufschauen konnte, doch hatte er einen Nerv in ihr getroffen, der ebenfalls ihre Liebe entfachen konnte. Sie spürte Zuneigung zu einem Mann, der sein ganzes Lebensglück von ihrem Jawort abhängig machte.
 
 
Es war nicht nur die Aura früh verstorbener Genies, die den Brontës einen so prominenten Platz in der englischen Literatur verschaffte. Da alle drei fernab vom Literaturbetrieb ihrer Zeit schrieben, zeigen ihre Werke eine Authentizität, die durch kaum ein Zugeständnis an den Zeitgeschmack getrübt wird. In Emilys Sturmhöhe glaubt man den kraftvollen, wenn auch noch unreifen Geist eines romantisch wieder erstandenen Shakespeare zu spüren; und auch ihre Gedichte haben etwas von der unsentimentalen Selbstentblößung shakespearescher Sonette. Charlottes Romane zeichnen sich durch ihre nuancierte Psychologie aus. Zwar fehlt ihnen die ironische Distanz Jane Austens ebenso wie der warme Humor George Eliots, doch wird in den beiden Meisterwerken, Jane Eyre und Villette, die autobiografische Egozentrik durch eine uneitle, puritanische Nüchternheit neutralisiert. Inzwischen haben kritische Leser auch den schmucklosen Realismus von Agnes Grey und Wildfell Hall, den Werken der jüngsten Brontë-Schwester Anne, schätzen gelernt, zumal der Letztgenannte das traditionelle Entwicklungsschema mit der Form des Desillusionierungsromans verbindet, die danach zur charakteristischen Romanform des 19. Jahrhunderts wurde. Damit ist für alle drei der Platz in der englischen Literatur gesichert, wobei Emily der Ehrenplatz gebührt; denn sie ist nicht nur die Autorin von Sturmhöhe, sondern gilt bei vielen zugleich als die bedeutendste englische Lyrikerin.
 
Hans-Dieter Gelfert
 
 
Christine Alexander und Jane Sellars: The art of the Brontës. Cambridge 1995.
 Juliet Barker: The Brontës. New York 1995.
 
The Brontës. The critical heritage, herausgegeben von Miriam Allott. Neudruck London 1995.
 Phyllis Bentley: The Brontës. Neuausgabe London 1997.
 
The Brontës. Interviews and recollections, herausgegeben von Harold Orel Iowa City, Ia., 1997.
 Elsemarie Maletzke: Das Leben der Brontës. Eine Biographie. Neuausgabe Frankfurt am Main 1998.
 Sally Schreiber: Die Geschwister Brontë. München 1998.
 Werner Waldmann: Die Schwestern Brontë. (Reinbek 20.-22. Tsd. 1998.
 Paul Barker und James Birdsall: Die Welt der Brontës. (a. d. Engl.,Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1998.

Universal-Lexikon. 2012.

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